Die Matthäus-Passion erzählt die Ereignisse, die zur Kreuzigung Jesu führen, eine dramatische und fesselnde Geschichte. Höhepunkte im ersten Teil sind das letzte Abendmahl sowie der Verrat und die Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane. Das Stück beginnt mit einem Eröffnungschor, der den Hörer direkt in die Passionsgeschichte hineinzieht.
Der Eingangschor
Michael Marissen: „Die gesamte Botschaft der Matthäus-Passion wird bereits im Eröffnungschor erzählt. Es ist absolut atemberaubend, diese drei Chöre zu hören: Zwei Chöre singen „Seht ihn, als wie ein Lamm“ und „Seht, auf unsere Schuld“, darüber schwebt in der Höhe ein dritter Chor mit der Choralmelodie ‚O Lamm Gottes, unschuldig‘. Das ist ohnegleichen – ich denke, sogar in Bachs Oeuvre.“
Ann Monoyios: „Das Stück beginnt und wird weiter und weiter und weiter aufgebaut. In dem Moment, wenn man als Chor einsetzt, wird man Teil dieser immensen Welle an Klang. Die Füße heben vom Boden ab und man lässt sich einfach mitreißen.“
Die Rolle des Evangelisten
Ian Bostridge: „Der Evangelist ist im Prinzip der Geschichten-Erzähler. Er trägt die ganze Last der Erzählung. Er singt Rezitative, nie Arien, und er stellt die Hauptdarsteller vor, die dann auftreten. Wir hören auch die Stimmen von Christus, Petrus, Pilatus und einigen kleineren Rollen. Aber der Großteil der Geschichte wird vom Evangelisten vermittelt und die Arien und Chöre sind letztlich Meditationen über die gerade gehörte Geschichte.“
Das letzte Abendmahl
Ton Koopman: „Das letzte Abendmahl war, zu Beginn, ein glücklicher Moment – alle sind zusammen, alle glauben an das Gleiche. Also gab es für Bach keinen Grund, an dieser Stelle etwas Trauriges zu schreiben.“
Ann Monoyios: „Das erste, was auffällt, wenn man diese Arie hört (‚Ich will dir mein Herze schenken‘), ist: Sie klingt wie ein Tanz. Und man denkt: „Was ist das? Meine Güte, ein Tanz vom letzten Abendmahl?“ Es ist offensichtlich ein Tanz, aber ich sehe es nicht als Tanz. Es hat seine ganz eigene Ernsthaftigkeit. Es spricht die positiven Ergebnisse der Passion an, die guten Dinge, die sich daraus ergeben werden. Es spricht über das Charisma von Jesus.“
Die Choräle der Matthäus-Passion
Michael Marissen: „Eine der tollen Sachen in Bachs Musik ist, dass für jeden etwas dabei ist. Selbst ein sehr oberflächlicher Hörer kann etwas daraus ziehen. Diese Melodien sind damals allen Kirchgängern bekannt gewesen. Das ist sehr direkt, das konnten sie sofort miterleben.“
Kenneth Slowik: „Betrachten Sie zum Beispiel den Gebrauch von Choralmelodien, wie ‚O Haupt voll Blut und Wunden‘, die im Laufe dieser Passion fünfmal wiederholt wird. Jedes Mal wird die Melodie anders harmonisiert. Wenn Bach dabei bestimmte Wörter – oder sogar einzelne Silben – hervorheben will, dann kann er das tun, durch Versetzungszeichen wie ein Kreuz, ein B oder ein Auflösungszeichen vor der Note.“
Die Wirkung der Doppelchörigkeit
Ton Koopman: „Das Interessante an ‚So ist mein Jesus nun gefangen‘ ist, dass es aus zwei Teilen zusammengesetzt ist. Der erste Teil besteht aus dem Sopran und dem Alt, die in großer Trauer singen. Der Chor hingegen spielt die Rolle der gläubigen Seele, die diese Geschichte zum ersten Mal hört und aufbegehrt und ruft: Lasst ihn, haltet [ein], bindet nicht! Die wunderschöne, traurige Musik wird dadurch die ganze Zeit immer wieder unterbrochen, aber Sopran und Alt singen unbeirrt weiter. In der zweiten Hälfte bricht der Chor dann richtig los mit ‚Sind Blitze, sind Donner‘.“
Ian Bostridge: „Die Musik wird zwischen zwei Chören hin- und hergeworfen, mit der Geschwindigkeit von Blitzen – der Text spricht auch von Blitzen und Donner. Wenn wir uns vorstellen, dass die Chöre etwa 30 Meter voneinander entfernt gestanden haben, beide singen von Emporen aus über den Köpfen der Gemeinde, die Gemeinde also zwischen ihnen gesessen hat, muss der Effekt geradezu überwältigend gewesen sein. Als würde man von allen Seiten bombardiert, was natürlich genau das ist, was der Text in diesem Moment bezwecken möchte.
Wenn der erste Teil der Matthäus-Passion zu Ende geht, ist Jesus im Garten Gethsemane verhaftet und von seinen Jüngern weggeführt worden. Die Bühne ist bereit für den nächsten Teil der Passion, der in seinem Tod am Kreuz gipfelt. Im nächsten Beitrag sehen wir uns die Höhepunkte des zweiten Teils genauer an.